
Warum so viele Menschen heute wie NPCs wirken – und wie wir uns selbst zurückgewinnen
Alexis de Tocqueville schrieb einst über die subtile Tyrannei der öffentlichen Meinung in seinem Meisterwerk: Über die Demokratie in Amerika (erschienen 1835):
„Du bist frei, nicht so zu denken wie ich; du behältst dein Leben, deinen Besitz, alles; aber von dem Tage an bist du unter uns ein Fremdling. Du behältst deine Vorrechte in der bürgerlichen Gesellschaft, aber sie nützen dir nichts mehr; denn bewirbst du dich um die Stimme deiner Mitbürger, so werden sie dir diese nicht geben, und begehrst du bloß ihre Achtung, so werden sie tun, als ob sie dir auch diese verweigerten. Du bleibst unter den Menschen, aber du büßest deine Ansprüche auf Menschlichkeit ein.“
Diese Beobachtung aus dem 19. Jahrhundert beschreibt exakt den seelischen Zustand der Gegenwart:
Man darf alles sagen – außer das, was wirklich eigenständig gedacht ist.
Man darf alles sein – außer man selbst.
Die neue Macht ist nicht repressiv, sondern formend. Sie zwingt nicht, sie konditioniert.
Sie belohnt Anpassung und bestraft Abweichung durch subtile soziale Kälte.
So entsteht der „funktionierende Mensch“: angepasst, professionell, freundlich – und innerlich leer.
Viele Menschen leben nach einem fremden Skript – und ahnen nicht, dass sie längst auf der Bühne eines Stücks stehen, das sie nie selbst geschrieben haben.
Der Weg vom Skript zum Selbst beginnt dort, wo man wieder zu denken, zu fühlen und zu handeln wagt – eigenständig.
Der Ausdruck „NPC“ (Non-Player Character) stammt aus der Computerspieltheorie. Dort bezeichnet er Spielfiguren, die nicht eigenständig handeln, sondern einem Programm folgen.
Als gesellschaftliche Metapher beschreibt er Menschen, die auf äußere Reize reagieren, ohne innere Bewegung; die sprechen, ohne zu meinen; die handeln, ohne zu entscheiden.
Ein Skript ist das unsichtbare Drehbuch, nach dem wir unser Leben spielen, solange wir nicht beginnen, es selbst zu schreiben.
Die Entseelung der Moderne
Carl Gustav Jung hätte diesen Zustand als Störung der Individuation bezeichnet – den Verlust der Beziehung zum inneren Selbst.
Individuation bedeutet, sich von kollektiven Mustern zu lösen und das Eigene zu entfalten.
Doch in einer Kultur, die Anpassung mit Tugend verwechselt, wird der Weg zum Selbst schnell zum Weg ins Abseits.
Die meisten leben in fremden Skripten: Familienerwartungen, Berufsrollen, Parteidenken, Influencerideale.
Das Ich wird zur Persona, zur Maske, hinter der das Selbst langsam verstummt.
Die Folge ist kein dramatischer Zusammenbruch, sondern eine stille Verwüstung:
Man funktioniert weiter, aber die Seele hat sich zurückgezogen.
Der Marketing-Charakter – Vom Mensch zum Produkt
Erich Fromm hat diese Dynamik früh erkannt.
In seinem Werk „Psychoanalyse und Ethik“ beschrieb er den Marketing-Charakter als seelische Form des Kapitalismus. Der Mensch lernt, sich selbst wie eine Ware zu betrachten – er verkauft sich, anstatt sich zu verwirklichen.
„Ich bin so, wie ihr mich braucht“ – das ist die innere Formel dieses Charakters.
In dieser Haltung wird das Selbst zu einer Fassade aus Anpassung, ein Markenkörper, der sich an wechselnde Erwartungen anpasst.
Nicht mehr Wahrheit zählt, sondern Wirkung.
Nicht mehr Tiefe, sondern Anschlussfähigkeit.
Die seelische Devise lautet: Sei freundlich, aber nicht ehrlich. Sei charmant, aber nicht echt.
Fromm schrieb sinngemäß: „Der moderne Mensch kennt den Unterschied zwischen Verkaufserfolg und persönlicher Integrität kaum mehr.“
Der zeitgenössische Bestsellerautor Dale Carnegie brachte diese Haltung populär auf den Punkt: „Wie man Freunde gewinnt“ – indem man sich den Erwartungen anderer anpasst.
Doch diese „Freundschaft“ ist eine Strategie, kein Gefühl. Sie ist sozial funktional, aber existenziell leer.
Dale Carnegie: Technik statt Wahrhaftigkeit.
Sein Bestseller trainiert soziale Wirkung als Methode – Zustimmung statt Wahrheit, Anschlussfähigkeit statt Integrität.
Das mag Verkäufe und Gefälligkeiten steigern, untergräbt aber Authentizität: Beziehungen werden zu Transaktionen, Menschen zu Zielgruppen.
Carnegies Prinzipien funktionieren – aber sie entfremden. Sie bringen kurzfristige Zugewinne an Zustimmung, doch langfristige Verluste an Seele – kurzfristig nützlich, langfristig seelenverzehrend.
Das Zeitalter des Algorithmus – Der NPC 2.0
Heute wird der Marketing-Charakter algorithmisch verwaltet.
Die sozialen Medien sind seine Bühne, die Selfie-Kamera sein Spiegel.
Likes, Follower und Klicks definieren sozialen Wert – messbar, sichtbar, aber nicht spürbar.
Der Mensch reagiert auf diese digitalen Reize wie ein Versuchstier im Skinner-Käfig: Ein kurzer Dopaminschub ersetzt Sinn.
Jede Plattform trainiert uns auf Reaktivität statt Reflexion.
Wir lernen, sofort zu antworten, sofort zu urteilen, sofort zu reagieren – ein Dauerreflex, der Selbstbeobachtung verdrängt.
Die Timeline wird zur kollektiven Hypnose.
Das Problem:
Was die KI als „Engagement“ misst, ist in Wahrheit die Erschütterung des inneren Gleichgewichts. Empörung, Angst und Neid erzeugen mehr Klicks als Gelassenheit, Nachdenklichkeit oder Einsicht.
Damit wird der Mensch selbst zum NPC einer Maschine, die ihn zu vorhersehbaren Reaktionen konditioniert.
Die spirituelle Dimension der Leere
Viele sensible Menschen erleben diese Welt als entfremdet, mechanisch, unbeseelt.
Sie empfinden ihre Mitmenschen als „zombiehaft“ – freundlich, aber leer; informiert, aber ohne Urteilskraft; moralisch, aber ohne Tiefe.
Jung hätte gesagt: Das ist das Symptom einer kollektiven Regression, einer Rückkehr in den psychischen Zustand der Masse, in der das Ich seine Verantwortung an äußere Autoritäten abgibt.
Man glaubt lieber, was das System sagt, als das eigene Unbehagen zu fühlen.
Doch er warnte auch: Wer diese Leere in anderen erkennt, sollte prüfen, ob er nicht seine eigene verdrängte Lebendigkeit auf sie projiziert.
Die Gefahr des „NPC“-Blicks liegt im Hochmut – in der Versuchung, sich selbst als Erwachten zu sehen und die anderen zu verachten.
Jung würde sagen: „Was dich am anderen stört, ist oft das, was du in dir selbst nicht leben darfst.“
Der Weg aus der Entseelung führt nicht über Abgrenzung, sondern über Bewusstwerdung.
Vom Rollen-Ich zum Selbst
Die Individuation ist kein psychologisches Luxusprojekt, sondern die einzige Heilung gegen das seelische Flachland unserer Zeit.
Sie bedeutet:
- die Masken zu durchschauen,
- die Schatten zu integrieren,
- das Eigene zu bejahen, auch wenn es unbequem ist.
In der Sprache des Alltags:
Nicht jede Meinung teilen, nur weil sie populär ist.
Nicht jedes Gefühl posten, nur weil es Likes bringt.
Nicht jede Beziehung pflegen, nur weil sie nützlich erscheint.
Die Rückkehr zur Seele ist ein stiller, innerer Prozess. Sie verlangt Mut zur Einsamkeit und die Bereitschaft, den eigenen Dämonen ins Auge zu sehen.
Wege aus dem Skript
1. Innere Wahrnehmung trainieren
Beginne, dich selbst zu beobachten – nicht wertend, sondern aufmerksam. Wann spielst du eine Rolle? Wann bist du echt?
2. Schweigen kultivieren
In einer Welt permanenter Reize ist Stille subversiv. Sie bringt dich zurück zu deinem inneren Takt.
3. Unvollkommenheit zulassen
Das Authentische ist nie perfekt. Nur das Glatte ist tot.
4. Räume für Resonanz schaffen
Musik, Natur, Handwerk, Gespräche mit Tiefe – alles, was nicht messbar ist, heilt das Messbare.
5. Verantwortung übernehmen
Wer wach ist, trägt Verantwortung – nicht für die Welt, aber für seine Haltung in ihr.
Von Vera F. Birkenbihl fügt sich hier ihr Antifehler-Programm wunderbar an – ein einfaches, aber wirkungsvolles Ritual, das hilft, sensibel zu reagieren und das Selbstwertgefühl anderer wie auch das eigene zu bewahren.
Das Antifehler-Programm:
Sag dir – oder anderen – mindestens einmal am Tag:
- „Ich habe Mist gebaut.“
- „Ich weiß es nicht.“
- „Bitte helfen Sie mir.“
Diese drei Sätze entwaffnen den Perfektionismus, fördern Lernfähigkeit und schenken jedem Gespräch wieder Menschlichkeit.
Die neue Ethik der Echtheit
Erich Fromm forderte eine Ethik des Seins statt Habens.
Heute könnte man hinzufügen: eine Ethik des Seins statt Scheinens.
Die Aufgabe ist nicht, sympathisch zu wirken, sondern wirklich zu werden.
Nicht sich zu verkaufen, sondern sich zu finden.
Nicht perfekt zu funktionieren, sondern bewusst zu leben.
Denn das Gegenteil des NPC ist nicht der Held, sondern der Bewusste – der Mensch, der sich selbst erkennt und sich nicht verkauft.
Im Geiste von Niccolò Machiavelli (1469–1527)
Der Schwache will (nur) verstanden werden – der Starke versteht sich selbst und weiß, was er will.
Echte Macht wächst leise, während andere dich unterschätzen. Und wenn der Moment gekommen ist, handelst du – ohne Ankündigung, ohne Entschuldigung, ohne Reue.
Es gibt eine Wahrheit, die schmerzt und zugleich befreit:
Du musst nicht geliebt werden. Du musst respektiert werden.
Denn Zuneigung ohne Respekt ist kein Gefühl, sondern Fremdbesitz –
Egoismus im Mantel der Zärtlichkeit, Interesse getarnt als Liebe.
Der Test ist einfach: Sag Nein – und sieh, wer (noch) bleibt.
Setze eine Grenze – und beobachte, wer dich plötzlich „egoistisch“ nennt.
Wähle dich selbst, und du wirst hören: „Du hast dich aber verändert.“
Ja – du hast dich verändert. Du hast aufgehört, dich zu verleugnen.
Viele Menschen wollen keine Freiheit, sie wollen Beifall.
Doch Zustimmung nährt nur die Anhaftung im Ego – und alles Oberflächliche vergeht,
wenn die Stille zurückkehrt und nur das Wahre bleibt.
So beugen sie sich Erwartungen und tauschen ihre Identität gegen ein Schulterklopfen.
Doch nur Respekt, verdient durch Haltung, übersteht den Wind der Zeit.
In Klarheit zu leben ist jedem widerrufbaren Gefallen vorzuziehen.
Verschenke deine Zeit nicht an Zeitdiebe, die nichts zurückgeben.
Erkläre deinen Wert nicht jenen, die ihn längst bezweifeln.
Und bitte nie um Erlaubnis, du selbst zu sein.
Wer eine Erklärung braucht, um dich wertzuschätzen, hat sich längst entschieden, es nicht zu tun.
Epilog
Vielleicht ist das die entscheidende Wende unserer Zeit:
die Rückkehr zum eigenen Selbst – zu jener inneren Wahrheit, die nicht angepasst, sondern wahrhaft ist.
Denn das Selbst unterscheidet sich vom Ego: Das Selbst ist Ursprung, Verbindung und Sinn; das Ego hingegen haftet an Äußerlichkeiten – an Status, Zustimmung und Erfolg.
Erst wenn wir diese Unterscheidung begreifen, beginnt echte Freiheit – die Unabhängigkeit von der Maske.
Ein Aufstand des Authentischen gegen das Skript der Anpassung. Wir stehen am Übergang von einer Zivilisation der Kontrolle zu einer Kultur der Bewusstheit. Daraus erwachsen die wirklichen Chancen der Zukunft junger Menschen.
Die Technik darf uns unterstützen. Und solange wir im Sattel sitzen, bleibt sie Fortschritt; sobald sie uns führt, wird sie Verlust.
Der Mensch ist kein Algorithmus, sondern ein Geheimnis, das sich erschließen lässt. Und solange er dieses Geheimnis ehrt und ein Suchender bleibt,
bleibt er lebendig – gegen alle Skripte dieser Welt.
Authentizität als Grundlage von Führung
Authentizität und Integrität sind das, was Mitarbeiter von Führungskräften erwarten.
Autorität entsteht nicht durch Rang oder Abzeichen – nicht durch verliehene Epauletten (Schulterklappen), sondern durch gelebtes Wissen und geerdete Weisheit.
Führen heißt, sich selbst zu kennen.
Wer sich nicht versteht, kann andere nur verwalten, nicht führen.
Darum beginnt wahre Führung mit Selbsterkenntnis – mit dem Blick nach innen.
Im AURIS-Persönlichkeitsprofil wird dieser Weg sichtbar:
Es zeigt, wie Denken, Fühlen und Handeln zusammenwirken, wo Potenziale liegen und welche Dispositionen Entwicklung erfordern.
Aus „Erkenne dich selbst“ wird dort ein Führungsprinzip – die Grundlage, um andere nicht zu beherrschen, sondern zu befähigen.
Führung als Ermächtigung bedeutet, Menschen zur eigenen Stärke zu führen – nicht zu Nachahmern, sondern zu Gestaltern.
Im Traineeprogramm für die interne Unternehmensnachfolge begleiten wir genau diesen Prozess:
vom Selbstverständnis zur Selbstwirksamkeit,
von der Rollenfunktion zur Persönlichkeit,
von der Anpassung zur authentischen Autorität.
Denn was hätte auf Dauer mehr Bedeutung oder Relevanz, als die eigene Individuation und Potenzialentfaltung?
Alles andere ist nur ein Skript – bis wir beginnen, unser eigenes zu schreiben.
„Vom Skript zur Seele“ – Ein Essay von SIRIS® Systeme für www.zeitfenster.com
Autor: Norbert W. Schätzlein, E-Mail: schaetzlein@siris-systeme.de
PS: In Gesprächen über die interne Unternehmensnachfolge höre ich oft: „Unsere Kinder kennen wir am besten.“
Man sei sicher, dass die Weichen richtig gestellt sind – sie haben ja studiert.
Doch was genau? Echte Führung oder Gender-Sternchen?
Zwischen akademischer Bildung und unternehmerischer Reife liegen Welten.
Denn ein Titel ersetzt keine Charakterbildung – und Führungsverantwortung beginnt nicht im Hörsaal, sondern im Spiegel.
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