von zeitfenster.com

Wer heute versucht, die Geschehnisse im Nahen Osten zu verstehen, betritt ein Terrain, das nicht nur hochkomplex, sondern auch vermint ist – ein heißes Eisen im öffentlichen Diskurs. Es ist ein Terrain, das weit mehr ist als ein geopolitisches Spannungsfeld. Es ist ein Amalgam aus Geschichte, Religion, Rohstoffinteressen, militärstrategischen Allianzen und psychologischen Machtinstrumenten. Und obwohl sich viele Meinungen lautstark in sozialen Medien oder an Stammtischen Gehör verschaffen, bleibt bei ernsthafter Betrachtung vor allem eines: Demut vor der Komplexität. Und mehr als Demut dürfen Sie, lieber Leser, wenn Sie hier weiterlesen wollen, nicht von mir als Autor erwarten. Vielleicht ist es genau das: nicht schnelle Urteile oder fertige Antworten zu liefern, sondern ein paar bessere Fragen zu stellen – Fragen, die offenhalten, was zu schnell verschlossen wird.

Um die Dynamiken wenigstens näherungsweise zu erfassen, hilft ein Gedankenmodell: Stellen wir uns das Ganze wie ein 3D-Schachspiel vor. Auf der für viele noch halbwegs nachvollziehbaren 2D-Ebene begegnet und das Offensichtliche:

a) Atomwaffenprogramme und nukleare Drohkulissen,

b) die sichtbaren Ausbrüche brutaler Gewalt, Terrorakte und Drohgebärden,

c) Territorialansprüche und Grenzkonflikte, oft vordergründig als nationale Interessen etikettiert,

d) Regime-Change.

Diese erste Ebene ist bereits hochkomplex – doch sie bleibt oberflächlich. Wer weiter denkt, merkt: Das eigentliche Spiel findet auf einer zweiten, dritten, vierten Ebene statt.

Wechseln wir also in die vertikale Tiefe dieses Schachspiels, betreten wir eine Metaebene, auf der sich eine vernetzte Realität offenbart:

e) Verteidigungsbündnisse, Geheimdienstkooperationen, geheime Absprachen,

f) strategische Rohstoffabhängigkeiten und Versorgungslinien – etwa in Gas, Öl, seltene Erden,

g) religiös aufgeladene Heilsversprechen und messianische Endzeitnarrative, die politische Entscheidungen beeinflussen,

h) die Preissetzungsmacht weniger Staaten im globalen Ölmarkt – ein Hebel, der über Krieg oder Frieden entscheiden kann,

i) ein Weltfinanzsystem, das sich dem Ende eines Zyklus zu nähern scheint – instabil durch Fiat-Währungen, Überschuldung und systemische Risiken,

j) völkerrechtliche Anklagen – selektiv erhoben, politisch aufgeladen, international unterschiedlich bewertet, wie etwa die Reaktionen auf das völkerrechtlich begründete Ermittlungsverfahren des Internationalen Strafgerichtshofs im Nahen Osten zeigen,

k) und nicht zuletzt: eine Form der Geschichtsschreibung, in der viele Kapitel – bewusst oder unbewusst – verzerrt, ausgelassen oder umgeschrieben werden (=Geschichtsklitterung).

In diesem multiplen Beziehungsgeflecht wirken nicht nur Staaten, sondern Thinktanks, Lobbygruppen, IT-Konzerne, paramilitärische Einheiten, religiöse Netzwerke und wirtschaftliche Machtkartelle. Die Wahrheit – sofern es sie in Reinform je gegeben hat – ist fragmentiert, vielschichtig und oft in Schichten aus Propaganda, Angst und Instrumentalisierung verborgen.

Hinzu kommt eine psychologische Dimension, die kaum jemand offen anspricht:

  • Orwellsche Wahrheitsverdrehung wird zur Normalität. Heute wird das Gegenteil von gestern als „Faktencheck“ präsentiert.
  • Gaslighting findet im globalen Maßstab statt: Wer den Bruch im Narrativ bemerkt, wird diskreditiert.
  • Und wer sich verweigert, alles mit einer der beiden großen Deutungs-Schablonen – „Gut gegen Böse“ – zu erklären, wird rasch als „relativierend“ verdächtigt.

„In einer Zeit universeller Täuschung ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt.“
George Orwell, Autor von 1984 und Animal Farm

Was aber, wenn die Realität nicht entlang simpler Dualismen funktioniert? Was, wenn der wahre Skandal in der Überforderung liegt – in einer Welt, die längst ihre Komplexität nicht mehr in verdauliche Sinnzusammenhänge fassen kann?

Und was, wenn der tägliche Konsum einfacher Medienkost – Schnellanalysen, Talkshowmeinungen, Schlagzeilen und Social-Media-Framing – in Wahrheit einem betreuten Denken gleichkommt? Was, wenn dadurch kein Wissen, sondern nur nachgeplapperte Meinungen entstehen – Meinungen, die vor allem eines nicht können: den Dingen wirklich auf den Grund gehen?

„Es ist besser, mit einer guten Frage zu enden, als mit einer schlechten Antwort zu beginnen.“
– frei nach Karl Popper

Der Versuch, all diese Faktoren zu durchdringen, ist eine Sisyphosarbeit. Er erfordert Recherchezeit, wie sie nur Vollzeit-Journalisten mit Zugang zu Geheimquellen, Historiker mit Sprachkenntnissen alter Quellen, oder Analysten mit interdisziplinärem Überblick aufbringen können. Doch selbst dann bleibt jeder Versuch fragmentarisch. Wer war tatsächlich Augenzeuge? Wer war überall dabei?

Hier beginnt wieder die Demut.

Es ist eine Haltung, die uns daran erinnert, dass Urteil und Meinung zwei verschiedene Dinge sind. Dass jede Einschätzung, die sich nicht der Mühe des Fragens, Lesens, Abwägens und Zweifels unterzieht, bestenfalls ein Gefühl beschreibt – aber keine Erkenntnis darstellt.

Vielleicht liegt die eigentliche Weisheit dieser Zeit darin, nicht vorschnell zu urteilen, sondern zuzuhören, Widersprüche auszuhalten und dort, wo keine Eindeutigkeit möglich ist, das Fragen höher zu schätzen als die Antwort.

Wir können nicht alles wissen. Doch wir können spüren, wann uns zu viel Gewissheit inmitten von Nebel verdächtig vorkommen sollte. Und das – ist womöglich der erste Schritt zu einer verantwortungsvollen Annäherung.

Meine Nachbarin sagt bisweilen: „Norbert, ich will von alledem gar nichts wissen – ich möchte einfach nur mein Leben leben.“ Und manchmal denke ich: Ja, vielleicht hat sie recht. Aber dann erinnere ich mich auch an: Wer nichts weiß, muss alles glauben.

Autor: Norbert W. Schätzlein, E-Mail: schaetzlein@siris-systeme.de

Hinweis an unsere Leser/innen:
Dieser Beitrag erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Neutralität. Er ist ein Versuch, Sprachlosigkeit in Sprache zu fassen – wissend, dass die Komplexität des Nahen Ostens sich keinem Modell restlos unterwirft. Kommentare mit Respekt und Tiefe sind willkommen – oberflächliche Urteile hingegen nicht.

„Manchmal ist ein Hauch von Ahnung mehr wert als ein Berg voller Urteile.“
zeitfenster.com

Titelbildquelle: KI-generiert mit DALL·E durch ChatGPT/OpenAI nach einer Idee des Autors

Der ursprüngliche Blog wurde am 20. Juni 2025 geschrieben und am 21. Juni veröffentlicht. Heute, am 28. Juni 2025, wirkt ex post vieles wie eine abgestimmte Inszenierung: ein Theater, in dem alle ihre Muskeln zeigen, Bomben werfen und Kollateralschäden billigend in Kauf nehmen, solange es dem eigenen Image dient. Diese These wird durch den ehemaligen UN-Waffeninspektor Scott Ritter gestützt, der auf Uncut-News von „politischem Theater“ spricht.

Dies sollte uns zum Nachdenken bringen, statt es als Fußnote in der Kriegsgeschichte abzulegen.

Quelle zum Nachlesen: https://uncutnews.ch/trump-bombardiert-den-iran-mit-scott-ritter-und-richter-napolitano/

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