In der vorliegenden Arbeit untersuchen wir die Auswirkungen der Geschwisterreihenfolge auf individuelle Persönlichkeitsmerkmale und gesellschaftliche Trends. Wir stützen uns dabei auf die Forschungen des Autors Frank J. Sulloway, der in seinem Werk „Der Rebell der Familie“ die Zusammenhänge zwischen Geschwisterrivalität, kreativem Denken und geschichtlichen Entwicklungen aufzeigt. Insbesondere konzentrieren wir uns auf die Idee, dass die Reproduktionsrate in der Bevölkerung eine Rolle spielt und Erstgeborene aufgrund ihrer Stärkeren Vertretung an quantitativen Stellenwert gewinnen, was wiederum zu einer konservativen Ausrichtung der Gesellschaft führen kann. Ergänzend sehen wir uns über die Methode des multiperspektivischen AURIS®-Persönlichkeitsprofils das Konfliktpotenzial an, das zwischen konträren Persönlichkeitstypen entstehen kann und auf Erst- und Spätergeborene attributierbar ist.

Geschwisterreihenfolge und Konservatismus: Sulloway stellt fest, dass Erstgeborene im Allgemeinen konservativer denken und handeln als ihre Geschwister. Dieser Trend lässt sich auf die Tatsache zurückführen, dass Erstgeborene, dadurch, dass sie unter dem Einfluss einer starken Orientierung an den Eltern von Natur aus nach Status und Macht streben, ähnlich wie Alpha-Männchen in Primatengruppen. Diese Ambitionen manifestieren sich in dominantem, aggressivem, ehrgeizigem und eifersüchtigem Verhalten, das sich durch eine konservative Weltanschauung ausdrückt.

Das AURIS®-Persönlichkeitsprofil: Um den Effekt und die Spannungen, die aus dem oben beschriebenen Sachverhalt erwachsen, zu veranschaulichen, nutzen wir hier das multiperspektivische AURIS®-Persönlichkeitsprofil nach dem Vierquadrantenmodell als Identifizierungs- und Messinstrument. Die vier Quadranten repräsentieren verschiedene Persönlichkeitsaspekte und stehen in einem natürlichen Spannungsverhältnis zueinander:

  • GELB (oben rechts): Steht für Kreativität, Ganzheitlichkeit, Phantasie und Intuition.
  • ROT (unten rechts): Repräsentiert zwischenmenschliche, emotionale und kommunikative Aspekte.
  • GRÜN (unten links): Steht für strukturieren, systematisieren, planen, organisieren und auch für konservative Aspekte.
  • BLAU (oben links): Repräsentiert nüchternes, sachliches und analytisches Denken sowie eine Affinität zur Technik.

Im Verständnis dieses Modells ist es von entscheidender Bedeutung zu erkennen, dass die jeweils diagonal gegenüberliegenden Quadranten ein konfliktträchtiges Spannungsfeld markieren. In der beispielsweisen Begegnung von einem sehr freigeistigen, phantasievollen und unkonventionellen Menschen mit einer hoch strukturierten, durchorganisierten und regelbasierten Person, tritt der Denk- und Wahrnehmungskonflikt voll zu Tage. Unmoderiert prallen hier Welten aufeinander.

Was der eine für möglich und selbstverständlich hält, lehnt der andere prinzipiell ab, weil die Denkkategorien keine (selbstverständliche) Kompatibilität erlauben. In der Praxis und im Unternehmensumfeld werden solche Lagerbildungen versucht aufzulösen über Coaching, Moderation, Training, Workshops mit mulitperspektivischen Persönlichkeitsprofilen und formalen, normativen Konzepten ausgehend vom Unternehmensleitbild und dem darin eingeforderten Respekt und der Wertschätzung gegenüber Andersdenkenden.

Geschwisterreihenfolge und gesellschaftliche Einstellungen: Die Forschungen von Sulloway zeigen, dass die Ankunft jüngerer Geschwister die Erstgeborenen in eine konservative Richtung drängt. Dabei entwickeln sich die Spätergeborenen zu den liberalsten Mitgliedern der Familie. Dieser Effekt führt weitergedacht dazu, dass die Gesellschaft insgesamt immer mehr in eine konservative Richtung rutscht, da Erstgeborene quantitativ stärker in der Population vertreten sind.

Der Erbadel und konservative Monarchen: Sulloway identifiziert den Erbadel als ein wirkungsvolles System zur Bündelung psychischer Effekte des Erstgeborenenstatus. Jede Generation von ältesten Söhnen tendiert dazu, noch konservativer zu werden als die vorherige. Die Primogenitur (Vorrecht des Erstgeborenen), nicht der aristokratische Ursprung, hat die meisten Monarchen zu Konservativen gemacht. Dies zeigt sich beispielsweise an der Geschichte der Familie Capet (französisches Königsgeschlecht der Kapetinger) und ihrer Entwicklung hin zu konservativen Herrschern über Generationen.

Akademische Erfolge und intellektuelle Primogenitur: Erstgeborene sind im akademischen Bereich im Allgemeinen erfolgreicher als Spätergeborene. Dies führt dazu, dass Erstgeborene im Kreis der etablierten Wissenschaftler überrepräsentiert sind. Jedoch sollte man vorsichtig sein, intellektuelle Primogenitur als alleinige Erklärung für radikales Denken zu betrachten, da dies zu oberflächlichen Schlussfolgerungen führen kann.

Spätergeborene als Berufsrevolutionäre: Spätergeborene zeigen im Gegensatz zu Erstgeborenen ein größeres Streben nach politischer Veränderung um jeden Preis. Während Erstgeborene neue Denkmuster eher in geistigen Krisenzeiten oder im späteren Stadium eines revolutionären Prozesses übernehmen, sind Spätergeborene flexibler und agieren schneller. Dies kann beispielsweise in kriegerischen Auseinandersetzungen dazu führen, dass Erstgeborene eher an die Macht gelangen, während Spätergeborene erfolgreich darin sind, ihre Länder aus einem Krieg herauszuhalten.

Und darum verstehen sie sich nicht: Wenn Freiheit die Verantwortungsübernahme bedingt, benötigt die Reglementierung über Normen, Gesetze und Verordnungen eine ausgewogene Balance zwischen individueller Autonomie und dem Schutz der Gesellschaft als Ganzes. Der nach unserer oben gewählten Metapher gelbe Menschentyp braucht Freiräume, die ihm der grüne Menschentyp nicht gewährt. Und umgekehrt sieht der Grüne im Gelben die Ursache von Chaos. Wo der eine Luft zum Atmen fordert, strebt der andere nach einem Ordnungsrahmen. Möglicherweise können sich beide Parteien darauf verständigen und arrangieren Leitblanken zu definieren, die den Handlungs- und Wirkspielraum sinnvoll für beide Seiten öffnen.

Fazit: Die Forschungen von Frank J. Sulloway liefern wichtige Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Geschwisterreihenfolge, individuellen Persönlichkeitsmerkmalen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Erstgeborenen neigen aufgrund ihrer Stärkeren Vertretung zu konservativen Einstellungen, während die Spätergeborenen liberaler denken. Das AURIS-Persönlichkeitsprofil hilft dabei, die Spannungen und Effekte dieses Sachverhalts anschaulich darzustellen. Diese Erkenntnisse sind von Bedeutung, um das Verständnis für die Dynamiken innerhalb einer Gesellschaft zu vertiefen und mögliche Trendentwicklungen besser einschätzen zu können.

Autor: Norbert W. Schätzlein 07-2023, Kontakt: schaetzlein@siris-systeme.de

Quellen:

Sulloway, Frank J.: Der Rebell der Familie, Geschwisterrivalität, kreatives Denken und Geschichte, aus dem Amerikan. Von Binder, Klaus und Leineweber, Bernd, 1. Aufl., Berlin: Siedler Verlag, 1997

AURIS®-Persönlichkeitsprofil; siehe: www.siris-systeme.de

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