Endlich Urlaub. Endlich Zeit zum Lesen. Und wo macht man das in Corona-Zeiten, zwangsweise? Zuhause; ganz genau.

Ein guter Freund hat mir schon vor einiger Zeit in einem Nebensatz ein Buch von Sebastian Haffner (1907-1999) empfohlen über die Zeit vor 1933. Das ist jetzt nicht unbedingt das Thema, das mir auf den Nägeln brennt, aber um bei einem der nächsten Treffen mit meinem Freund mitreden zu können, war mir die letzten Tage danach, einen Blick hineinzuwerfen.

Tja, kaum angefangen, begann auch schon die Zeitreise, die mich für die Dauer der Lesezeit in Bann hielt. Mit einem Quäntchen Empathie wird jeder ganz schnell zu Haffner und leidet mit dem Protagonisten.

Wie Ihr Euch denken könnt, geht es in diesem Art Tagebuch um das seinerzeitige totalitäre Regime, über das jeder vom Hörensagen eine gewisse Vorstellung hat. In meiner Schulzeit wurde diese Geschichtsphase immer ausgeblendet; wir erfuhren kaum etwas von dem wir uns ein Bild hätten machen können. Von meinen Großeltern konnte ich auch keine Informationen ziehen; sie starben als ich noch ein kleiner Junge war und meine Eltern waren selbst zu jung (geb. 1925 und 1930), um mir von 1933 zu erzählen.

Wer die Geschichte nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht sinnvoll gestalten, davon bin ich felsenfest überzeugt. Darum gilt es hinzuhören, wenn Menschen aus der Vergangenheit zu uns sprechen. Geschichte wird wieder lebendig, wenn wir auf den passenden Erzähler treffen und so ein Zeitzeuge ist eben Sebastian Haffner in seinem Buch Geschichte eines Deutschen, Die Erinnerungen 1914-1933.

Haffner beginnt sein Buch mit dem Zitat eines seiner Lieblingsautoren, Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahre 1808: „Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel.“

Es lassen sich verschiedene Lehren aus diesem Buch ziehen, auf die hier mehr oder minder summarisch, aber nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit, eingegangen werden soll. Alle nachstehenden Gedanken ersetzen nicht das Lesen des Buches. Sie können Euch aber dazu dienen mit achtsamem Blick den einen oder anderen Aspekt von Haffner zu vertiefen und bewusst zu reflektieren. Dazu wünsche ich Euch spannendes Lesevergnügen und die ein oder andere neue Erkenntnis.

Die Lehren aus dem Buch:

Ÿ Die Bosheit und Unmenschlichkeit nähert sich langsam und nicht mit einem Paukenschlag.

Ÿ Man ist – trotz innerer Ablehnung – versucht zu Beginn einer Fehlentwicklung Zugeständnisse zu machen.

Ÿ Toleranz im Sinne von „ertragen, erleiden, erdulden“ ist eine Form des Arrangements mit dem scheinbar Unausweichlichen. Zeitversetzt ist es gerade diese Toleranz des Wegsehens, die alles nur noch viel schlimmer macht. Bei Nasim Taleb (Skin in the game) findet sich passend zum Kontext folgendes Bonmot in einer Frage gekleidet: „Sollte eine Gesellschaft, die sich dafür entschieden hat, tolerant zu sein, gegenüber Intoleranz intolerant sein?“

Ÿ Wenn die Dosis nur klein genug ist, wirkt der Gewöhnungseffekt und regt sich kein nennenswerter Widerstand. *)

Ÿ Diskussionen enden regelmäßig in der Rechtfertigung des Aggressors. Wer angreift, hat halb gewonnen.

Ÿ Gleichschaltung auf allen Ebenen und in allen Institutionen verstärkt und selbstreferenziert das einmal geschaffene und ins Leben gerufene Narrativ, egal wie falsch es ist.

Ÿ Auf die Justiz ist kein Verlass: heute so und morgen anders, ganz nach Belieben; Hauptsache die Luft „scheppert“ und es klingt bedeutungsschwanger und elaboriert unverständlich.

Ÿ Der geistige Widerstand fällt zusammen, als sich Erfolge des totalitären Regimes einstellten. Damit hatte keiner in der Opposition gerechnet.

Nach der Lektüre dieses Buches wird die Frage beantwortbar, was ein echtes totalitäres Regime in der Zeit von 1933 ausgezeichnet hat. Hierzu meine aus dem Buch extrahierte Checkliste:

Ÿ Einst hohe Ideale werden bereitwillig geopfert, wenn der Wind dreht und der Opportunismus zu Gunsten des Mainstreams Karriereperspektiven oder einfach nur Einfluss, Macht und Geld verspricht.

Ÿ Vorauseilender Gehorsam (auch von Seiten des Arbeitgebers) lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigene Person.

Ÿ Unreflektiert mit billigen, populistischen Parolen um sich werfen.

Ÿ Wendehals: je nach Großwetterlage passt sich die Gesinnung elastisch an.

Ÿ Meinungspluralismus wird als zersetzend interpretiert und als unduldbare Opposition zum Unvermeidlichen, zur alternativlos gültigen Heilsbotschaft verstanden.

Ÿ Ideologien beherrschen das Denken und ersticken den Debattenraum in vergifteter Atmosphäre.

Ÿ Brünftiger Kameradschaftstaumel statt Selbstverantwortung.

Ÿ Denunziation wird zum Mittel der Wahl zur „Beseitigung“ von Andersdenkenden und im Triumphgefühl als Sieg erlebt, mit dem Vergnügen der Demütigung.

Ÿ Bestehende Gesetze werden uminterpretiert oder durch neue ersetzt, die den (neuen) Interessen besser dienen. Rechtssicherheit tritt gänzlich außer Kraft.

Ÿ Der Angriff auf die Privatsphäre mit Gewalt wird geduldet und gerechtfertigt; die Selbstverteidigung hingegen für illegitim erklärt. Das Opfer hat zu erdulden, was immer ihm auch der Täter antut.

Ÿ In der Initiative bleiben und sich über vielfach wiederholte Parolen selbstlegitimieren (rechtfertigt jedes Unrecht).

Ÿ Pathos-affin; aber intellektuell nicht satisfaktionsfähig (Ratio, Vernunft, Logik, Wissenschaft, etc. sind belanglos). „Alternative Fakten“ bestimmen die „Lufthoheit“.

Ÿ Das freudige Entdecken niederer Instinkte in der eigenen Person und ihr Ausleben selbstreferenzierend genießen.

Ÿ Die Lust, Individualität zu bestrafen.

Ÿ Aufbau einer Angst(un)kultur. (Phobokratie)

Ÿ Hasserfüllte Projektionen bedienen aufgrund unbewusster Traumata.

Ÿ Überhöhung der eigenen Person und des Kollektiverlebnisses [ schwache Identität trifft auf hohe Identifikationsbereitschaft.

Ÿ Suche nach Abenteuer und den ultimativen Kick (Grenzerfahrungen ungestraft ausloten).

Ÿ Propaganda ersetzt bequem die Wahrheit.

Ÿ Deutungshoheit über Kunst und Literatur.

Ÿ Mitmenschen entfremden sich; Freundschaften gehen auseinander; die Gesellschaft ist tief gespalten.

Was ist Haffner so wichtig, dass er uns ermahnt dies auch in künftigen Zeiten zu beachten:

„Was ich auf der Welt liebe“, sagt Haffner, „was ich auf der Welt um jeden Preis bewahrt sehen will, und was man nicht verraten darf, man sterbe denn des ewigen Feuers: Freiheit und menschliche Klugheit, Mut, Grazie, Witz und Musik – und ich weiß nicht einmal, ob man mich versteht.“

Blogautor: Norbert W. Schätzlein, 10.08.20

Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen, Die Erinnerungen 1914-1933, 1. Aufl., 2014

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