Der nachfolgende Beitrag wurde durch meine Wochenendaktivitäten zur Aktienanalyse inspiriert, einem alten, lukrativen Hobby von mir. Bei der Analyse von Aktiencharts ist die Optik oft ebenso wirkungsvoll wie fundamentale Nachrichten. Heftige Ausschläge in den Kursbewegungen sind oft auf neue Fundamentaldaten und gängige Chartformationen zurückzuführen.

Dies wirft die philosophische Frage auf: Nach welchen Prinzipien funktioniert unsere Welt? Regiert uns das Konzept „function follows form“ oder „form follows function“? Hier einige Beispiele für beide Ansätze, die je nach Bewusstsein und situativer Anwendung ihre Berechtigung haben.

a) Function follows form:

Kleiderwahl: Oftmals wählen Menschen Kleidung nach ihrem Aussehen, nicht unbedingt nach ihrer Funktionalität. Ein modisches Kleid mag nicht besonders bequem oder warm sein, aber es wird getragen, weil es gut aussieht.

Chartanalyse für Aktien: Bei der Chartanalyse wird nach Formationen Ausschau gehalten, die ein Signal zum Kauf oder Verkauf auslösen. Hier folgt die Funktion (Kauf/Verkauf) der Form (function follows form). Wenn viele Anleger das Gleiche sehen und entsprechend handeln, kann dies zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung führen. Daher sollte die Chartanalyse durch eine Fundamentalanalyse ergänzt werden.

Möbeldesign: Ein Designerstuhl mag sehr ästhetisch sein, aber möglicherweise nicht besonders bequem. Die Form ist das zentrale Element, und die Funktion (Komfort) folgt dieser Form.

b) Form follows function:

Werkzeuge: Ein Hammer ist so gestaltet, dass er Nägel effektiv einschlagen kann. Die Form des Hammers ergibt sich direkt aus seiner Funktion.

Autos: Ein Geländewagen ist so gestaltet, dass er raues Gelände befahren kann. Die Form (robuste Bauweise, hohe Bodenfreiheit) folgt der Funktion (Geländefähigkeit).

Küchengeräte: Ein Mixer ist so gestaltet, dass er Lebensmittel effizient zerkleinern und mischen kann. Die Form des Mixers ist eine direkte Konsequenz seiner Funktion.

Diese lebensnahen Beispiele zeigen, wie in verschiedenen Bereichen die Beziehung zwischen Form und Funktion unterschiedlich gestaltet sein kann.

Eigentlich könnte der Blog hier enden, aber beim Schreiben kam der Wunsch auf, die Ursprünge des bekannteren Konzepts „form follows function“ zu erforschen. Hier sind die Ergebnisse meiner Recherche:

Der Begriff „form follows function“ stammt ursprünglich aus der Architektur und wurde von dem amerikanischen Architekten Louis Sullivan geprägt. Sullivan formulierte diesen Grundsatz im späten 19. Jahrhundert und brachte damit zum Ausdruck, dass die Form eines Gebäudes oder Objekts aus seiner Funktion abgeleitet werden sollte. Dies bedeutete, dass die praktischen Anforderungen und der Zweck eines Gebäudes oder Objekts die primären Faktoren bei dessen Gestaltung sein sollten.

Louis Sullivan verwendete diesen Ausdruck erstmals in einem Aufsatz mit dem Titel „The Tall Office Building Artistically Considered,“ der 1896 veröffentlicht wurde. In diesem Aufsatz argumentierte er, dass die äußere Gestaltung eines Hochhauses aus den inneren Funktionen und Anforderungen des Gebäudes hervorgehen sollte. Dieser Grundsatz wurde zu einem zentralen Prinzip der modernen Architektur und beeinflusste später auch das Bauhaus und andere Designbewegungen, die Wert auf Funktionalität und Einfachheit legten.

Hier ist ein Zitat von Sullivan aus dem genannten Aufsatz: „It is the pervading law of all things organic and inorganic, of all things physical and metaphysical, of all things human and all things superhuman, of all true manifestations of the head, of the heart, of the soul, that the life is recognizable in its expression, that form ever follows function. This is the law.“

Sullivans Konzept hat nicht nur die Architektur, sondern auch das Industriedesign und viele andere Bereiche der Gestaltung nachhaltig beeinflusst. Begriffe wie „Schönheit“, „Ästhetik“ und „Harmonie“ kommen bei Sullivan nicht vor.

In gewisser Weise kann man das Konzept von „form follows function“ als eine Gegenbewegung zum Jugendstil (auch bekannt als Art Nouveau) betrachten. Der formschöne Jugendstil, der Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts populär war, legte großen Wert auf Ästhetik, Dekoration und künstlerische Ausdrucksformen. Diese Designbewegung zeichnete sich durch organische, geschwungene Linien, florale Muster und aufwendige Verzierungen aus.

Im Gegensatz dazu betonte der Grundsatz „form follows function“ von Louis Sullivan die Idee, dass die Form eines Gebäudes oder Objekts direkt aus seiner Funktion abgeleitet werden sollte, ohne unnötige Verzierungen oder dekorative Elemente. Diese Philosophie war eine Reaktion auf die oft „überladenen“ und ornamental geprägten Designs des Jugendstils. Brauchte man diese aufwendige Bauform und all das „Brimborium“ des Jugendstils? Unter finanziellen Gesichtspunkten wird ja wohl alles nur teurer und wir wollen doch allerorten sparen. Ja, man hätte insbesondere unter dem Budgetaspekt auf Design verzichten müssen. Und trotzdem ist der Jugendstil bis auf den heutigen Tag schön, und die Funktionsbauten (ausgenommen Bauhaus) dagegen toppen sich in funktionaler, kostengünstiger Hässlichkeit. Leider kann man sich das Hässliche nicht schönsehen.

Die „form follows function“-Philosophie bereitete den Weg für den Modernismus und beeinflusste Architekten und Designer wie Frank Lloyd Wright, das Bauhaus, Le Corbusier und die Bewegung der Internationalen Moderne. Diese Bewegungen und Designer setzten auf klare Linien, minimalistische Formen und eine Konzentration auf die praktische Nutzung und Effizienz von Gebäuden und Objekten.

Der optischen Umweltverschmutzung im Design heutiger „moderner“ Bauten fehlt längst eine Gegenbewegung. Und soll mir keiner erzählen, dass Geld ein knappes Gut sei. So wie Geld von den Zentralbanken „hergestellt“ wird, als gäbe es kein Morgen, basiert es nur auf Bits und Bytes und es wäre mir neu, dass es uns daran mangelt.

Autor: Norbert W. Schätzlein, Kontakt: schaetzlein@siris-systeme.de

Bildquelle: erstellt mit DALL-E durch OpenAI nach Vorgaben des Autors

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